Und übrig bleibt nur der Mörder ...
Thea(l)ternativ feiert gelungene Premiere: Publikum als Zeuge und Richter
VON ELLEN SIGWART
Stollberg. Spinnweben wabern über die Schultern der Zuschauer, als sie durch die
Tür zum Saal des Theaterpädagogischen Zentrums in Stollberg gehen. Schauriges Sturmgeheul
aus den Lautsprechern lässt Schreckliches vermuten. Schon leicht beklommen nehmen sie Platz und
schauen ängstlich in Richtung Bühne. Dort soll heute ein Kriminalstück nach der
britischen Autorin Agatha Christie Premiere feiern. Zehn kleine Negerlein, so der harmlose Titel,
den die Theatergruppe Thea(l)ternativ dafür gewählt hat. Dass es vielleicht doch nicht so
harmlos werden könnte, ahnen die Zuschauer, als sich das Bühnenbild in düsteres
Licht taucht.
Zehn hölzerne Negerlein stehen auf dem Klavier aufgereiht, ebenso viele Menschen kommen
Anfang des 20. Jahrhunderts auf einer Insel vor Englands Küste zusammen: alle
aus verschiedenen Gründen für ein Wochenende von einem Herrn A. N. Onym geladen.
So sitzen die Gäste unschlüssig im Salon, langweilen sich bei einem Whisky und hören
dem Liedchen zu, das einer auf dem Klavier klimpert: Zehn kleine Negerlein.
Aus Langeweile wird Ernst und aus Hochstaplerei nagendes Misstrauen, als eine Stimme jeden der
Anwesenden als Mörder entlarvt. Was hat das zu bedeuten? Plötzlich liegt der erste Tote
auf der Bühne. Auf dem Klavier fehlt ein Negerlein. Aber das Lied hat zehn Strophen.
Was wird mit den anderen? Und warum ist eigentlich der Gastgeber nicht erschienen? Wieso kennt
ihn niemand? Nach kurzer Zeit stirbt der Zweite und mit jedem Toten steigt das Misstrauen der noch
Lebenden. Wer ist der nächste und vor allem, wer bleibt übrig? Und langsam reift die
Erkenntnis: „Niemand wird die Insel wieder verlassen."
Bis zur Pause wird auf der Bühne zügig gestorben und das Publikum wird nicht nur Zeuge,
sondern auch Richter. „Raten Sie doch mal, wer der Mörder ist", prangt auf den Stimmzetteln,
die unter den Zuschauern verteilt werden. Die Köpfe rauchen. Wo das Kreuzchen machen? Es wird
verschwörerisch getuschelt, ratlos der Kopf geschüttelt oder nachdenklich ins Leere
gestarrt. „Ist doch logisch", behaupten die einen, „keine Ahnung", resignieren die anderen.
Auch Christine Gatzsch aus Ursprung schaut ratlos drein: „Ich habe dieses Stück sogar schon
mal in Chemnitz gesehen", erzählt sie, „aber an den Mörder kann ich mich nicht erinnern."
Auf der Bühne nimmt die Zahl der Akteure ab und die Panik zu. „Dem traue ich nicht",
flüstert da einer dem anderen ins Ohr. Das Publikum lauscht in gespannter Stille und schaut
beängstigt aufs Klavier, wo sich mittlerweile gähnende Leere breit macht, bis - ja bis
der Mörder allein auf der Bühne steht.
Die Premiere endet friedlich. Erleichtert, mit dem Schrecken davon gekommen zu sein, spenden die
Zuschauer den Darstellern, die so überzeugend zu sterben verstanden, reichlich Applaus. Die
verbeugen sich strahlend und freuen sich über den gelungenen Abend. Besonders freut sich die
Regisseurin Susanne Richter. Für sie seien nach dieser Premiere alle Sorgen und Zweifel
vergessen, die sie während der Proben zu ihrem Regiedebüt immer wieder begleiteten,
sagt sie.
Als sich die Türen öffnen und die Besucher in die verschneite Nacht entlassen, wiegen
diese sich wieder in Sicherheit. Dabei sollten sie es nun besser wissen: wer weiß, was hinter
der nächsten Hecke lauert ...
(Freie Presse vom 08. Dezember 2003)